Hadern, kämpfen, wachsen – Mein Leben als pflegende Mutter
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Die ersten Auffälligkeiten bei meiner Tochter traten im letzten Drittel ihres ersten Lebensjahres auf. Es waren Entwicklungsverzögerungen, die zunächst vage blieben und keine klaren Antworten zuließen. Mit der Zeit wurde aus der "Entwicklungsverzögerung" eine schwere geistige Behinderung und Autismus – weiterhin ohne eine übergeordnete, konkrete Diagnose.
Diese Ungewissheit war zutiefst verunsichernd. Mein inneres System geriet ins Wanken. Ich musste mich von Vorstellungen verabschieden, wie mein Leben als Mutter und unsere gemeinsame Zukunft aussehen würde. Doch ich wollte das nicht. Es fiel mir unfassbar schwer zu akzeptieren, dass unsere zweite Tochter mit einer Behinderung lebt und dass sich damit unser gesamter Lebensplan verändert. Viele Dinge, die ich mir für mich, meine Familie und auch für meine Tochter gewünscht hatte, standen auf der Kippe. Plötzlich musste ich mich mit Themen wie Pflegegrad und Schwerbehindertenausweis befassen – Dinge, mit denen ich eigentlich gar nichts zu tun haben wollte. Innerlich habe ich mich massiv dagegen gewehrt.
Ich fühlte mich "falsch". Ich dachte, dass ich mein Kind nicht so liebe und akzeptiere, wie es ist. Dafür habe ich mich selbst stark verurteilt. Erst viel später habe ich gelernt, dass dies zwei verschiedene Dinge sind. Ich kann sehr wohl mit der Situation und den Herausforderungen hadern, ohne dass das bedeutet, dass ich mein Kind nicht liebe. Diese Erkenntnis hat mir geholfen, meinen eigenen Weg zu finden.
Ein großer Vorteil war meine Fähigkeit, aufzustehen und weiterzugehen. Ich suchte mir Hilfe und beschloss, mich nie wieder so hilflos zu fühlen. Ich wollte Freude am Leben haben – egal, wie dieses Leben aussah. Also blieb ich dran, knüpfte Kontakte, tauschte mich aus, nutzte alle Informationen, die ich finden konnte, und kämpfte. Für mich. Denn nur so konnte ich auch für mein Kind kämpfen.
Ein Leben voller Herausforderungen und Entscheidungen
Unsere Tochter benötigt non-stop Betreuung und Pflege. Die größte Herausforderung ist die Vereinbarkeit – nicht nur mit Beruf, sondern mit allen Bedürfnissen, die wir als Familie gemeinsam und jede:r Einzelne für sich hat. Unsere Tochter gehört zu uns, doch vieles ist mit ihr nicht möglich. Und ohne sie auch nur sehr begrenzt, da es an unterstützenden Betreuungs- und Pflegemöglichkeiten fehlt.
Besonders deutlich wurde das in der Hochphase der Corona-Pandemie: Meine Tochter war sieben Wochen rund um die Uhr zu Hause, und ich war 24/7 allein in der Pflegesituation. Das bedeutete keine Erwerbsarbeit, wenig Raum für Ehe und Geschwisterkind, und noch weniger Raum für mich selbst. Auch die Beziehung zu meiner Tochter litt darunter, ebenso wie ihre Förderung, da digitaler Unterricht mit ihr nicht möglich war.
Ein besonderes Erlebnis in dieser Zeit war: Die Schulbegleitungskraft meiner Tochter war bereit uns zu Hause zu unterstützen, doch der Träger untersagte dies. Gleichzeitig wurde meine geplante Mutter-Kind-Kur abgesagt. Dieser Moment brachte mich an meine Grenzen. Und ich richtete eine deutliche Frage an die Geschäftsführung des Trägers: „Wer übernimmt die Verantwortung, wenn eine pflegende Mutter einfach umfällt?“ Ich bekam keine Antwort aber die Schulbegleitung durfte dann doch zu uns nach Hause kommen. Die Frage, die mich seitdem begleitet, lautet: Warum muss ich erst von allergrößter Not sprechen, damit jemand zuhört? Und was ist mit all den pflegenden Angehörigen, die dies aus unterschiedlichsten Gründen nicht können?
Die Entdeckung der Selbsthilfe
Meine ersten Kontakte zur Selbsthilfe knüpfte ich über die Frühförderstelle. Allerdings gab es dort kein Angebot, das in meiner Situation praktikabel war. Also begann ich, im Internet zu recherchieren. In Foren wie RehaKids und sozialen Netzwerken fand ich Menschen, die sich in ähnlichen Situationen befanden. Nach und nach baute ich mir ein kleines Netzwerk auf und knüpfte Verbindungen zu Organisationen und Vereinen, die sich für meine Belange einsetzten.
Der Austausch mit Betroffenen lässt sich nicht pauschal beschreiben, denn die Herausforderungen sind bei jedem anders. Doch eines eint uns alle: die Erleichterung, die sich einstellt, wenn man merkt, dass man nicht allein ist. In der Selbsthilfe fand ich einen Raum, in dem ich meine Emotionen und Gedanken endlich beim Namen nennen konnte – ohne Angst vor Verurteilung oder unpassenden Lösungsvorschlägen.
Von der Teilnehmerin zur Moderatorin
Mit der Zeit erkannte ich, dass ich das, was ich durch die Selbsthilfe gelernt und erfahren hatte, nicht für mich behalten konnte. Ich entschied mich für eine Coaching-Ausbildung – zunächst, um meine eigene Lebensqualität zu verbessern. Später folgten weitere Aus- und Weiterbildungen, und irgendwann war klar, dass ich auch beruflich in diesem Bereich tätig sein möchte.
Heute moderiere ich digitale Selbsthilfegruppen, unter anderem für wir pflegen NRW e.V. Digitale Angebote bieten pflegenden Angehörigen besondere Vorteile: Sie sind flexibel in der Zeitgestaltung, der Aufwand ist gering, und sie schaffen dennoch einen großen Nutzen. Gerade für überlastete Angehörige sind diese Angebote eine niederschwellige Möglichkeit, sich zu vernetzen und auszutauschen.
Was mir Mut und Kraft gibt
Mein größter Antrieb sind meine Familie und die kleinen Glücksmomente, die wir gemeinsam feiern. Es ist zu einem Familienritual geworden, diese Augenblicke groß zu machen – sie zu übertreiben, wie wir sagen. Das gibt uns die Kraft, auch schwierige Tage durchzustehen.
Als Moderatorin und Coach macht mir Mut, wenn Menschen durch den Austausch selbst neuen Mut fassen. Es ist immer wieder beeindruckend, wie ansteckend Mut sein kann. Meine Aufgabe ist es, pflegende Angehörige zusammenzubringen und ihnen Räume zu bieten, in denen sie voneinander profitieren können.
Meine Botschaft an andere pflegende Angehörige
Mein wichtigster Ratschlag: Such dir Verbündete. Menschen, die eine ähnliche Lebensrealität haben und bei denen du einfach so sein kannst, wie du bist. Gleichzeitig solltest du immer wieder den Schritt wagen, auch aus der eigenen "Bubble" herauszutreten. Das macht das Leben vielfältiger und unterstützt die Sichtbarkeit, die wir alle brauchen.
Selbsthilfeangebote haben mein Leben bereichert und mir eine Basis gegeben, auf der ich weiter aufbauen kann. Recherchiere, frag andere nach ihren Erfahrungen und probiere es aus. Es gibt nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen.
Melanie
Foto: Caroline Lucius
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