Eingabehilfen öffnen

Zum Hauptinhalt springen
Stellungnahmen

Stellungnahme: Eckpfeiler der Bund-Länder Arbeitsgruppe Zukunftspakt Pflege

Stellungnahmen

Stellungnahme: Eckpfeiler der Bund-Länder Arbeitsgruppe Zukunftspakt Pflege

Der Bundesverband pflegender An- und Zugehöriger – wir pflegen e.V. – sieht Licht und Schatten im Bericht der Bund-Länder Arbeitsgruppe Zukunftspakt Pflege, der am 11. Dezember veröffentlicht wurde.

Generell begrüßt wir pflegen e.V. die politische Absicht, durch Präventionsmaßnahmen, durch Stärkung der ambulanten Pflegeversorgung, Förderung der Selbsthilfe und durch eine deutlich bessere Entlastung pflegebedürftiger Menschen und ihrer Angehörigen eine nachhaltige Sicherung der Pflegeversorgung zu schaffen, und gleichzeitig durch eine Erleichterung der Zugänglichkeit von Leistungen und der Deckelung von Eigenanteilen eine finanzielle Gerechtigkeit zu sichern.

Gleichwohl werden die Eckpfeiler der Bund-Länder-AG diesen Zielen jedoch bei weitem nicht gerecht. Der Bundesverband beurteilt die Eckpunkte als Stückwerk: Zweifellos ein wichtiger Beginn einer dringlichen gesamtgesellschaftlichen Diskussion zu einer umfassenden Pflegereform. Doch in ihrer vorliegenden Begrenztheit verfehlen die Eckpunkte die Ziele der Regierung und verankern bestehende Ungerechtigkeiten der Pflegeversorgung noch tiefer im bereits unzulänglichen Pflegesystem. Die Eckpunkte tragen die Handschrift einer Kommission, die verfehlt hat, die Perspektiven der Betroffenen von Beginn an einzubinden.  

Gefahr einer Umverteilung zu Lasten der häuslichen Pflegesettings

Der Bundesverband kritisiert primär das Diktat, ohne Mehrausgaben weitreichende Verbesserungen der Pflegeversorgung rein aus derzeit finanzierten Leistungen schaffen zu wollen. Wenn mehr Ressourcen aus der bereits mangelhaften Versorgung in eine institutionalisierte Prävention, Rehabilitation und Deckelung stationärer Eigenanteile umgesteuert werden sollen, muss dies unter dem ‚Diktat der Sparmaßnahmen’ logischerweise zu erheblichen Kürzungen in anderen – ambulanten und häuslichen – Leistungsbereichen führen.

Damit droht eine bewusste und systematische Verschärfung der Pflege-Triage mit weiteren bitteren Leistungskürzungen für die Menschen mit hohen Pflegebedarfen und ihre Angehörigen. Daraus folgt notgedrungen, dass sich noch mehr berufstätige Angehörige, zumeist Frauen, gezwungen sehen ihre Erwerbstätigkeit zu reduzieren oder aufzugeben, um Pflegeleistungskürzungen zu kompensieren. Diese "Pflegeabwanderung" verstärkt den bundesweiten Arbeitskräftemangel, reduziert Steuereinnahmen und wirtschaftlichen Aufschwung und vertieft für die Betroffenen das Armutsrisiko im Alter.

Verschärfung der Verteilungsschieflage

Der Bundesverband verurteilt weiterhin aufs Schärfste, dass die Begrenzung der Eigenanteile durch einen sogenannten Sockel-Spitze-Tausch nur für Personen in vollstationärer Versorgung gelten soll. Auch hier droht eine unakzeptable Leistungsschere zunehmender Ungleichheit. 

Die AG stellt kein tragfähiges Konzept für eine Deckelung der Eigenanteile in der häuslichen Pflege vor, obwohl über 86 Prozent der Menschen zu Hause betreut und versorgt werden. Damit nimmt die AG bewusst in Kauf, dass die finanzielle Entlastung im stationären Bereich aufgrund der damit notwendigen Umverteilung von Leistungsansprüchen zu Lasten der ambulanten Pflegeversorgung, der pflegebedürftigen Personen und ihrer Angehörigen gehen muss. Dies ist eindeutig eine bewusste Vertiefung der systemischen Ungerechtigkeiten des Pflegesystems.

Aus Sicht pflegender An- und Zugehöriger ziehen sich inakzeptable Schlussfolgerungen wie rote Fäden durch viele der Eckpunkte der Arbeitsgruppe: Ohne klug eingesetzte Investitionen führen Leistungsverbesserungen und eine bessere fachpflegerische Begleitung für Menschen mit niedrigerem Betreuungs- und Pflegebedarf zum einen unweigerlich zu Leistungskürzungen und Entzug fachpflegerischer Pflege zu Lasten der Menschen mit höherem Pflegebedarf und verschärfen zum anderen die Ungerechtigkeiten eines bereits ungerechten Systems.

Reduktion von Prävention auf fachpflegerische Maßnahmen

Auch wenn der grundsätzliche Nutzen präventionsorientierter Maßnahmen unbestritten ist, sind bei einem ausschließlichen Fokus auf sogenannte fachpflegerische Maßnahmen und das Ignorieren bereits bestehender niedrigschwelliger und ehrenamtlicher Strukturen die kausalen Folgen einer Verschlechterung der Versorgung von Pflegebedürftigen mit hohem Pflegebedarf völlig unakzeptabel. Sie verstoßen vehement gegen das Ziel der „Selbstbestimmung und Würde“, das von der AG in ihren Eckpfeilern noch vor dem Ziel der Prävention steht.

wir pflegen e.V. bezweifelt die Notwendigkeit fachlicher Begleitung in vielen der empfohlenen Maßnahmen. Nicht jede Prävention braucht eine fachpflegerische Begleitung. Wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass bei frühen Graden der kognitiven oder körperlichen Einschränkungen vielfach die Erhaltung sozialer Teilhabe die wirksamste Prävention von Pflegebedürftigkeit ist: soziale Kontakte, gemeinschaftliche Unternehmungen, Sport und aktive nachbarschaftliche Hilfen benötigen kein „fachpflegerisches“ Personal.

Fehlende evidenzbasierte Datenlage

Der Bundesverband bedauert, dass die Arbeitsgruppe zu kritischen Fragen zukünftiger Trends der Pflegeversorgung nicht auf verlässliche Daten zugreifen kann, und sich in einigen Empfehlungen mehr auf eminenz- statt evidenzbasierte Annahmen stützt. So z.B. mit der Behauptung, dass pflegebedürftige Menschen, die erstmals in den Pflegegrad 2 oder 3 eingestuft werden, und ihre An- und Zugehörigen, anfangs häufig einen besonders hohen Bedarf an Unterstützung haben. Hierzu sind uns keine Studien bekannt. 

Der Bundesverband nimmt aus Berichten der Betroffenen wahr, dass sich immer mehr Angehörige, die pflegebedürftige Menschen in hohen Pflegegraden 4 und 5 pflegen, am Rande gesundheitlicher und mentaler Erschöpfung an den Verein wenden, weil ihnen, meist mit Begründung des Pflegefachkraftmangels, die Versorgung gekürzt oder oft ganz entzogen wird. 

Ohne belastbare repräsentative Ergebnisse eine weitreichende Umverteilung innerhalb der Sozialen Pflegeversicherung vorzunehmen, ist nicht vertretbar.

Fehlende Maßnahmen zur Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements 

Der Bundesverband setzt sich weiterhin für die Erhaltung, Flexibilisierung und selbstbestimmte Anwendung des Entlastungsbetrags ein. Der Pflegenotstand zwingt bereits heute viele pflegende Familien, eigeninitiiert Maßnahmen zur Versorgungslage zu ergreifen. Gerade für niedrigschwellige Unterstützung gilt es, bürokratiearm Nachbarschaftshilfe und zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern, auch damit fachpflegerisches Personal sich um pflegeintensivere Situationen kümmern kann.

Der Traum von fachpflegerischem Potential ist ausgeträumt, wenn bis 2030 bis zu 25 Prozent der derzeitigen Fachkräfte in den Ruhestand gehen. Daher vermissen wir in den Eckpunkten eine Erweiterung und Fokussierung auf flexibel einsetzbare Maßnahmen, die es den pflegebedürftigen Personen und ihren An- und Zugehörigen in allen Pflegesituationen ermöglicht, individuelle Bedarfe durch nachbarschaftliche Hilfen und quartiersnahe Netzwerke zu decken. 

Kein Mut zur Entbürokratisierung

Im anhaltenden Pflegenotstand muss Bürokratie und staatliches Misstrauen gegenüber der Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit der Familien vielmehr einer Kultur des Vertrauens weichen. Pflegende An- und Zugehörige kritisieren die Pflege und die Politik zurecht, wenn sie sie mit Bürokratie und Bevormundung bestraft werden, statt ihre Kompetenzen und Resilienz zu fördern.

Notfallversorgung nur bei gesicherter Regelversorgung

Der Bundesverband begrüßt die Schaffung eines Notfallbudgets, vermisst jedoch auch hier logische Folgerungen, dass eine Notfallversorgung nur auf Basis einer deutlich verbesserten Regelversorgung gewährleistet werden kann. 

Die Eckpunkte der Arbeitsgruppe schränken gegenwärtige Ansprüche auf Kurzzeitpflege ein, was wiederum die Möglichkeiten einer Kurzzeitpflege in Überlastungssituationen oder zur Vorbeugung von Notfällen einschränkt. Damit wird das explizite Ziel der Prävention in der häuslichen Pflege konterkariert. Vor allem adressiert die Arbeitsgruppe nicht das Hauptproblem: in Notfällen fehlt nicht der Anspruch auf Kurzzeitpflegeplätze, sondern es fehlen die Angebote. Ohne Kurzzeitpflege-Kontingente kann Kurzzeitpflege weder im Notfall noch als Prävention in Anspruch genommen werden.

Weitere Vorschläge zeigen, wie hilflos die Arbeitsgruppen vor der Sicherung einer Notfall-Versorgung stehen. Das führt nur zu einer schlechteren Versorgung der Pflegebedürftigen und produziert erhebliche Umverteilungs- und Gerechtigkeitsprobleme.

Die Empfehlung eines Notfalltelefons kommentiert eine pflegende Angehörige zweier 90-jähriger Eltern wie folgt: “Ein Notfalltelefon ist besser als gar nichts. Aber wer sitzt am anderen Ende und hilft uns? Am Ende muss ich doch wieder alles selbst organisieren.” Schlecht ausgebildete Mitarbeitende in Hotlines schaden mehr, als sie nützen.

Desolate Situation pflegender Eltern bleibt bestehen

Leider ignoriert die Bund-Länder-Kommission auch die desolate Situation vieler Eltern mit pflegebedürftigen Kindern. Menschen, die aufgrund fehlender Versorgungsangebote oft gezwungen sind, ihr Leben lang ihre Kinder mit Beeinträchtigungen zu pflegen und zu betreuen, haben andere Bedarfe als Hochaltrige. Geschätzt sind rund zehn Prozent aller pflegebedürftigen Menschen unter 21 Jahren. Das größte Problem pflegender Eltern ist eine überbordende Bürokratie und eine Vielzahl von Zuständigkeiten auf Bundes-, Landes- und regionaler Ebene. Das wurde offensichtlich bei dem Ziel der „Überwindung der Sektorengrenzen“ in der dringend notwendigen Pflegereform bisher nicht diskutiert. 

Eine weitere Zielgruppe sind junge Menschen mit Pflegeverantwortung. Auch die Bedarfe und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Pflegeverantwortung werden leider in dem vorliegenden Papier mit keinem Wort berücksichtigt.

Maßnahmen zur Integration ausländischer Betreuungskräfte

Zudem fehlen dem Bundesverband Maßnahmen zur Integration und Regelung der mittlerweile bis zu 500.000 ausländischen Betreuungskräfte in Privathaushalten. Die Beschäftigung ausländischer Hilfskräfte ist für Familien in den meisten Fällen eine Notlösung, weil das Pflegesystem vor Ort keine bedarfsgerechte Pflegeversorgung leisten kann. Der weitgehend ‚graue Markt‘ mit oft dubiosen Vermittleragenturen muss zur Sicherung der Interessen aller Betroffenen – der pflegebedürftigen Personen, ihrer Angehörigen und der Betreuungskräfte – deutlich besser geregelt und in kommunale Pflegestrukturen integriert werden. Dies findet jedoch keine Erwähnung in den Eckpunkten der Kommission.

Case-Management und Entlastungsbudget

wir pflegen e.V. erkennt auch kleine Lichtblicke: So begrüßt der Bundesverband die Eckpunkte einer Umstrukturierung der Beratungsinfrastruktur in Richtung eines begleitenden Case-Managements und die direkte Beratung der pflegenden Angehörigen in der Häuslichkeit. Dafür müssen allerdings die Zuständigkeiten gezielter und bedarfsorientierter an den individuellen Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen ausgerichtet werden. Auch diese Maßnahmen bedürfen unter Umständen zusätzlicher Investitionen, die nicht den Mitteln der Versorgungsleistungen für Menschen mit intensivem Pflegebedarf entzogen werden dürfen. Auch erste Gedanken zur Flexibilisierung der Leistungsansprüche in einem Entlastungsbudget sind positiv zu erwähnen.

Zusammenfassend betont der Bundesverband wir pflegen e.V. die Notwendigkeit einer mutigeren Pflegereform, mit Maßnahmen zur Einbindung aller gesellschaftlichen Akteure, für einen Paradigmenwechsel zur Gleichbehandlung der häuslichen Pflege mit stationärer Pflegeversorgung und einer Verlagerung auf mehr selbstbestimmte Versorgungsplanung durch weitgehende Entbürokratisierung und Flexibilisierung der Leistungsansprüche. 

Büro in Berlin
  • wir pflegen – Interessenvertretung und Selbsthilfe pflegender Angehöriger e.V.
  • Turmstraße 4
    10559 Berlin
  • 030 – 4597 5750
  • Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.