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Zum europäischen Tag der pflegenden Angehörigen fordert Stecy Yghemonos, Executive Director Eurocarers, eine bessere Einbindung pflegender Angehöriger
Was bedeutet es, pflegende Angehörige als gleichberechtigte Partner in der Pflege anzuerkennen? Welche europäischen Länder nehmen eine Vorreiterrolle bei der aktiven Unterstützung pflegender Angehöriger ein? Antworten auf diese Fragen liefert Stecy Yghemonos, Executive Director von Eurocarers, der europäischen Interessenvertretung pflegender Angehöriger, in seinem Artikel zum Europäischen Tag der Pflegenden Angehörigen. Der von Eurocarers ausgerufene Tag findet am 6. Oktober zum fünften Mal statt unter dem Motto „Pflegende Angehörige sind Partner in der Pflege“.
Stärkung europäischer Pflegesysteme durch die Anerkennung pflegender An- und Zugehöriger als gleichberechtigte Partner
Stecy Yghemonos, Executive Director Eurocarers
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In ganz Europa leisten Millionen von Menschen unbezahlte Pflege für Familienmitglieder, Freunde oder Nachbarn mit chronischen Krankheiten, Behinderungen oder altersbedingten Beschwerden. Diese Personen werden informal carers genannt – „informell pflegende An- und Zugehörige“ und sie bieten den Pflegebedürftigen wichtige Unterstützung.
Die Bedeutung der informellen Pflege liegt nicht nur in der Solidarität begründet – ein Wert, der in unserer alternden Gesellschaft als öffentliches Gut hochgehalten werden muss –, sondern auch in ihrem geschätzten wirtschaftlichen Wert, der die von den EU-Staaten für die professionelle Langzeitpflege bereitgestellten Mittel weit übersteigt.
Informell pflegende An- und Zugehörige sind das Rückgrat der europäischen Pflegesysteme. Trotz ihrer entscheidenden Rolle werden sie meist nicht in politischen Diskussionen und Versorgungsmodellen berücksichtigt und eher als stumme und ausbeutbare Arbeitskräfte behandelt als als gleichberechtigte Partner in der Pflege.
In den letzten Jahren, insbesondere nach der Pandemie, wurden EU-Entscheidungsträger aufmerksam auf die mangelnde Anerkennung informell pflegender An- und Zugehöriger. Im September 2022 stellte die Europäische Kommission die Europäische Strategie für Pflege und Betreuung[1] vor, um qualitativ hochwertige, bezahlbare und zugängliche Pflegeversorgung in der gesamten EU zu gewährleisten und die Situation sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für diejenigen, die sie professionell oder informell pflegen, zu verbessern.
Die Strategie fordert die Mitgliedstaaten auf, klare Verfahren zur Identifizierung pflegender An- und Zugehöriger einzuführen und ihnen die notwendige Entlastung zukommen zu lassen. Dazu gehört die engere Zusammenarbeit zwischen pflegenden Angehörigen und beruflichen Pflegekräften sowie die Unterstützung der Angehörigen mit Zugang zu Schulungen, Beratung, medizinischer Versorgung, psychologischer Betreuung und pflegefreier Zeit. Darüber hinaus fordert die europäische Pflegestrategie eine angemessene finanzielle Unterstützung für Angehörige, ohne bewirken zu wollen, dass diese Maßnahmen sie von einer beruflichen Teilnahme am Arbeitsmarkt abhalten.
Eurocarers, die europäische Interessenvertretung pflegender Angehöriger, greift dies auf zum fünften Europäischen Tag der Pflegenden Angehörigen am 6. Oktober 2024, unter dem Motto „Pflegende Angehörige sind Partner in der Pflege“. Die Kampagne will das öffentliche Bewusstsein der wichtigen Rolle pflegender Angehöriger im Pflegesystem schärfen und ihre Einbeziehung in pflegebezogene Entscheidungsprozesse fördern. Das diesjährige Thema unterstreicht, wie wichtig es ist, über bloße Anerkennung hinauszugehen und pflegende Angehörige nachhaltig als gleichberechtigte Partner in der Pflege einzubeziehen.
Was bedeutet es für pflegende Angehörige, Partner in der Pflege zu sein?
Anerkennung pflegender Angehöriger als Partner in der Pflege heißt, ihre einzigartige Kenntnis der von ihnen betreuten Personen und deren Bedürfnisse anzuerkennen, die sich aus dem tiefen Verständnis der Beeinträchtigungen und der Vorlieben der pflegebedürftigen Person ergeben. Dieses intime Wissen sorgt oft für eine Kontinuität in der Pflege, die professionelle Pflegekräfte selten erreichen können.
Die Einbindung der An- und Zugehörigen als Partner erlaubt, ihre Betroffenenexpertise in die Pflegeentscheidungen zu integrieren. So werden sie integrierte Mitglieder des Pflegeteams statt nur als Unterstützer gesehen zu werden. Dieser kollaborative Ansatz ersetzt ein hierarchisches Modell durch ein partizipatives, bei dem pflegende Angehörige aktiv an der Planung und Entscheidungsfindung teilnehmen und die Verantwortung mit den Fachkräften des Gesundheits- und Sozialwesens teilen, um die Gesamtqualität der Pflege zu verbessern.
Eine erfolgreiche Partnerschaft beruht auf gegenseitigem Respekt und offener Kommunikation, bei der sowohl berufliche Fachkräfte als auch pflegende Angehörigen die jeweiligen Beiträge wertschätzen: Fachkräfte bieten klinisches Fachwissen und pflegende An- und Zugehörige ergänzen dies mit wichtiger persönlicher Betroffenenexpertise.
Um gegenseitige Wertschätzung zu fördern, bedarf es mehrere Grundprinzipien. Zuallererst müssen pflegende Angehörige offiziell in den Pflegesystemen anerkannt werden. Eine weit gefasste und allumfassende Definition der informellen Pflege und der pflegenden Angehörigen sollte als Grundlage für alle Maßnahmen dienen, die darauf abzielen, ihre Rechte zu festigen und Schlüsselprinzipien für die Entlastung pflegender Angehöriger jetzt und in Zukunft festzulegen.
Diese Anerkennung beinhaltet die Bestätigung ihrer zentralen Rolle im Pflegeprozess und die Sicherstellung, dass ihre Beiträge sowohl von Pflegefachkräften als auch von politischen Entscheidungsträgern gewürdigt werden. Darüber hinaus sollte sich die Anerkennung auf sozial- und beschäftigungspolitische Maßnahmen erstrecken, die pflegende Angehörige in ihrer Doppelrolle unterstützen.
Zweitens ist es von entscheidender Bedeutung, dass pflegende Angehörige aktiv in die Entscheidungsprozesse bezüglich der Pflege ihrer Angehörigen einbezogen werden. Pflegefachkräfte sollten sich mit pflegenden Angehörigen beraten und ihre Beiträge bei der Entwicklung von Pflegeplänen, Behandlungen und Dienstleistungen einbeziehen. Ihre Erkenntnisse können die Qualität der Pflege erheblich verbessern, indem sie sicherstellen, dass die Pflege individuell auf die spezifischen Bedürfnisse der pflegebedürftigen Person zugeschnitten ist.
Drittens sollten pflegende Angehörige Zugang zu angemessenen Ressourcen und Schulungen haben, die sie in die Lage versetzen, ihre Rolle als Partner in der Pflege effektiv zu erfüllen. Dazu gehören u.a. auch Schulungen für Pflegeaufgaben, psychologische Unterstützung und Dienste wie Kurzzeit- und Verhinderungspflege zur Vorbeugung von Burnout. Auch finanzielle Unterstützung sollte zur Verfügung gestellt werden, damit pflegende Angehörige ihr Wohlbefinden aufrechterhalten können, während sie sich um andere kümmern.
Schließlich müssen die europäischen Staaten unbedingt für arbeitsrechtliche Flexibilität sorgen, wie z. B. bezahlten Urlaub für Pflegende, flexible Arbeitszeiten und Teilzeitoptionen. Diese Flexibilität erleichtert es pflegenden Angehörigen, weiterhin ihren Beitrag zum Arbeitsleben zu leisten und gleichzeitig ihre Pflegeverantwortung zu bewältigen. Dennoch bleibt die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf für viele informell Pflegende eine große Herausforderung.
Beispiele für Unterstützungsmaßnahmen in Europa
Die Wirksamkeit von Initiativen, die darauf abzielen, pflegende Angehörige als Partner anzuerkennen, hängt von integrierten politischen Maßnahmen in den Bereichen Soziales, Gesundheit und Arbeitsrecht ab. Mehrere europäische Länder haben Maßnahmen zur aktiven Unterstützung pflegender Angehöriger eingeführt.
Schottland hat in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle übernommen. Die Health and Social Care Partnerships (HSCPs) integrieren Gesundheits- und Sozialpflegeversorgung der regionalen Verwaltung und der NHS Gesundheitsämter und stellen sicher, dass pflegende Angehörige in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Diese Einbeziehung stärkt die Qualität der Pflege, da die Expertise und Bedürfnisse der Pflegenden berücksichtigt werden.
Eine weitere wichtige Initiative ist das Scottish Carers Parliament, das pflegenden Angehörigen eine Plattform bietet, um ihre Erfahrungen und Empfehlungen direkt mit politischen Entscheidungsträgern zu teilen. Dieses kollaborative Modell der Zusammenwirkung verbessert die Ergebnisse der Pflege und unterstreicht die Bedeutung pflegender Angehöriger als zentrale Mitglieder des Pflegeteams.
Das schottische Modell hat Finnland inspiriert, 2016 das finnische Parlament für pflegende Angehörige (Omaishoitoparlamentti) einzurichten, um die Beteiligung pflegender Angehöriger an pflegepolitischen Prozessen zu erleichtern. Finnlands Nationaler Pflegeplan konzentriert sich ebenfalls auf die Unterstützung informell Pflegender durch verbesserte Dienstleistungen und finanzielle Hilfe, neben Pflegeunterstützungsangeboten, die Pflege-Entlastungsoptionen anbieten.
Schweden ist sehr bekannt für seine umfassende Unterstützung pflegender Angehöriger. Das Land bietet ihnen Zugang zu Schulungen, Beratungs- und Peer-Support-Gruppen. Wichtig ist, dass die schwedischen Kommunen gesetzlich verpflichtet sind, die Bedürfnisse pflegender Familien zu ermitteln und sicherzustellen, dass sie die notwendigen Dienstleistungen erhalten.
Vor kurzem stellte Schweden seine erste nationale Strategie für pflegende Angehörige (Nationell anhörigstrategi) vor, um Kommunen und Regionen zu unterstützen, die Perspektive pflegender Angehöriger zur Pflege und Entlastung zu stärken, mit dem Ziel, die Unterstützung für pflegende Angehörige landesweit individueller und gerechter zu gestalten. Die Grundlage dieser Strategie ist, dass die Bemühungen und das Engagement der Pflegenden immer auf Freiwilligkeit beruhen sollten.
In den Niederlanden sind die Kommunen gesetzlich verpflichtet (Wet Maatschappelijke Ondersteuning, 2015) den informellen Pflegesektor zu unterstützen, damit die Pflegenden ihre Pflegeaufgaben erfüllen und um gleichzeitig die pflegebedürftigen Personen zu unterstützen. Das Gesetz enthält Bestimmungen zur Entlastung von Angehörigen, wie z. B. kurzfristige stationäre Aufenthalte für Pflegebedürftige, die den Pflegenden eine Atempause verschaffen. Die 2020 landesweit gestartete Initiative „Gemeinsam stark für informelle Pflege“ zielt darauf ab, den Zugang zu Unterstützungsleistungen für pflegende Angehörige zu verbessern und ihre zentrale Rolle in der Pflegeplanung und Entscheidungsfindung anzuerkennen.
Als eines der am schnellsten alternden Länder Europas mit einem Pflegesystem, das in hohem Maße von unbezahlter Pflege abhängt, kann es sich Deutschland nicht leisten, die Bedürfnisse der informell Pflegenden zu vernachlässigen oder Reformen zu verzögern, die ihnen angemessene Unterstützung und Anerkennung als wichtig(st)e Partner im Pflegesystem bieten. Obwohl pflegende An- und Zugehörige einige rechtliche Ansprüche und Leistungen erhalten, wie z. B. finanzielle Unterstützung und Entlastungspflege, werden sie nicht vollständig als gleichberechtigte Partner in der Pflege anerkannt. Der derzeitige Rahmen erkennt zwar ihre wichtige Rolle an, konzentriert sich aber oft auf die Unterstützung, ohne sie in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
Um wirklich als Partner in der Pflege anerkannt zu werden, ist ein kooperativerer Ansatz erforderlich, der pflegende Angehörige neben den Fachkräften in die Planung und Entscheidungsfindung einbezieht. Obwohl mit Maßnahmen zur beruflichen Freistellung von Pflegenden und zur sozialen Absicherung Fortschritte erzielt wurden, befindet sich das Konzept, informelle Pflegende als gleichberechtigte Partner zu behandeln, in Deutschland noch in der frühen Entwicklung. Eine stärkere Betonung der Mitbestimmung und der Wertschätzung ihrer besonderen Expertise ist für die Anerkennung einer echten Partnerschaft unerlässlich.
Warum Partnerschaft wichtig ist: Ein integrativer Ansatz für die Pflege
Informell pflegende An- und Zugehörige als Partner anzuerkennen, ist nicht nur fair, sondern unerlässlich. Da die gesundheitlichen und pflegerischen Versorgungssysteme aufgrund der Bevölkerungsalterung und des Arbeitskräftemangels zunehmend unter Druck geraten, spielen informell pflegende Angehörige eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung dieser Systeme. Ihre Kompetenzen garantieren eine mehr auf individuelle Bedürfnisse angepasste Pflege mit besseren Ergebnissen.
Das Leitmotiv des fünften Europäischen Tages der Pflegenden, „Informelle Pflegende SIND Partner in der Pflege“, signalisiert einen notwendigen Paradigmenwechsel in ganz Europa. Bei der Anerkennung informell pflegende Personen als gleichberechtigte Partner in der Pflege geht es um viel mehr als nur um Dankbarkeit – es geht darum, sie als zentral wichtige Mitwirkende in unsere Pflegesysteme aktiv einzubeziehen und zu entlasten.
Dieser kooperative Ansatz kann die Gesundheits- und Sozialpflegesysteme in der gesamten EU darin stärken, eine umfassendere, personenzentrierte Pflegeversorgung zu erreichen und gleichzeitig das eigene Wohlergehen der pflegenden An- und Zugehörigen sicherstellen.
Mit zunehmenden Maßnahmen zur Umsetzung und Stärkung der Entlastung pflegender Angehöriger erwarten wir einen Wandel zu stärkeren und widerstandsfähigeren Pflegesystemen, die den Bedürfnissen der alternden europäischen Bevölkerung gerecht werden.
Lassen Sie uns gemeinsam an diesem Europäischen Tag der pflegenden Angehörigen dafür eintreten, dass informell Pflegende bessere Anerkennung und Entlastung erfahren – nicht nur als Beitragszahler, sondern als echte Partner!
[1] Europäische Strategie für Pflege und Betreuung: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_5169 und https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52022DC0440
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