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Erfahrungsberichte

Altersarmut von pflegenden Eltern


28. März 2022

Wir haben einen 14jährigen Sohn mit Undine-Syndrom. Dieser Gendefekt sitzt im zentralen Nervensystem und bewirkt, dass die autonome Atemkontrolle gestört oder gar nicht vorhanden ist. Als Beispiel: beim Tauchen würde unser Sohn nicht wieder alleine an die Wasseroberfläche kommen und Luft holen, da sein Gehirn keine Atemnot kennt. Bei jedem Einschlafen oder Ohnmacht stoppt die eigene Atmung sofort. Würde er dann nicht beatmet werden, würde er innerhalb kürzester Zeit versterben ohne es selber zu merken. Das Leben unseres Sohnes ist technologieabhängig und abhängig von Menschen, die wissen was sie tun. Er kann keine 24 Stunden ohne fremde Hilfe überleben. Neben diesem Gendefekt bestehen noch diverse andere Besonderheiten, die viel Zeit und Aufmerksamkeit im Alltag beanspruchen. Aufgrund des Undine-Syndroms benötigt unser Sohn die 24-stündige Überwachung bzw. Sicherstellung der Beatmung. Da wir als Eltern das nicht alleine leisten können, haben wir einen Kinderkrankenpflegedienst zur Unterstützung. Dieser leistet 9 Stunden eine Sitzwache nachts und die Schulbegleitung. Den Rest der Zeit übernehmen wir als Eltern. 

Es gibt viele Dinge, auf die wir gerne mal aufmerksam machen wollen; Dinge, die man erst gewahr wird, wenn man aufgrund eines intensivpflichtigen Kindes tief in die Materie eintauchen musste. Warum z.B. muss jeder Pflegedienst für jedes Kind für jede Krankenkasse einen eigenen Versorgungsvertrag aushandeln? Warum bekommt der Pflegedienst plötzlich 15 Euro weniger (zumindest unser Pflegedienst), nur weil das Kind volljährig geworden ist und damit in der Versorgung wie ein Erwachsener vergütet wird; an der notwendigen Versorgung ändert sich ja nichts?

Aber ein anderes Thema ist für uns dringender: Behandlungspflege durch die Angehörigen/Altersarmut von pflegenden Eltern.
Unser Sohn benötigt 24 Stunden Behandlungspflege in Form der ständigen Krankenbeobachtung und der Sicherstellung der Beatmung. Wir hätten sogar Anspruch auf 24-stündige Unterstützung durch einen Pflegedienst. Diese wollen wir aber gar nicht; daher haben wir nur die Nachtwache und die Schulbegleitung. Durch den Fachkräftemangel gibt es teils enorme Lücken in der Versorgung.

Das neue Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPREG) bekräftigt zu Recht, dass die Intensivpflege nur durch Fachkräfte durchgeführt werden soll. Aber wenn der Nachtdienst um 21.15 Uhr losgeht und um 20.30 Uhr der Anruf kommt, dass die Schwester krank ist und keiner zum Nachtdienst kommt, interessiert es plötzlich niemanden mehr, wie die Versorgung sichergestellt wird. Der Pflegedienst hat solche Ausfälle in der Kalkulation (und den Vergütungsverhandlungen) einberechnet und die Krankenkasse muss die Ausfälle nicht bezahlen.

Wir als Eltern, die dann die Nacht als Sitzwache (schlafen dabei geht nicht) machen müssen und dafür sorgen, dass unser Sohn die Nacht überlebt, bekommen nichts dafür. Wir setzen unsere Gesundheit damit aufs Spiel sowie die Eltern-Kind-Beziehung oder gar das Eheleben sowie unsere Arbeit (mit der wir unseren Lebensunterhalt verdienen).

Ausfälle nicht vorkommen sollen, ist schon klar. Aber wir als Eltern arbeiten im Durchschnitt so viel wie eine 450-Euro-Kraft, die beim Pflegedienst angestellt ist. Alleine im letzten Jahr waren es 285 Stunden die ausgefallen sind – und das war schon ein gutes Jahr mit einer guten Abdeckung der Dienste. Und wie bereits beschrieben: wir decken ja von vorneherein viele Zeiten selber ab plus die Zeiten von Krankenhausaufenthalten; die 1:1-Versorgung kann dort nicht durch das Klinikpersonal sichergestellt werden. Es ist egal, was die Krankenkasse dazu meint oder die Politiker – die Realität spricht eine eigene Sprache! Unser Sohn müsste bei geplanten Aufenthalten zur Kontrolle auf die Intensiv und dort unnötigerweise ein dringend benötigtes Bett in Anspruch nehmen, nur weil er eine 1:1-Versorgung aufgrund der Beatmung benötigt. Und selbst die Intensiv kann die höchst individuelle Versorgung bei einem Betroffenen mit Undine-Syndrom nicht sicherstellen. Wir wollen hier aber über den notwendige (vom Arzt bestätigten), genehmigten (von der Krankenkasse bewilligten) Stundenumfang sprechen. Warum erhalten die Eltern keinen Ausgleich für ausgefallene Dienste? 

Im Rahmen der Pflegekasse wird nichts in die Rentenkasse eingezahlt für uns, da unser Sohn keinen großen Grundpflegebedarf hat (Pflegegrad 2). Die ständige Krankenbeobachtung und Beatmungssicherstellung sind Behandlungspflege, die nicht zu der Pflegeeinstufung zählt. Behandlungspflege, die quasi nur Fachkräfte machen dürfen. Wir als Eltern können nicht so für unseren Lebensunterhalt arbeiten, wie wir das gerne möchten oder brauchen, da wir den Fachkräftemangel ja auch irgendwie kompensieren müssen. Wir kennen viele betroffene Familien, von denen mindestens ein Teil gar nicht arbeiten gehen kann.

Altersarmut ist nicht nur Thema für Kinder, die ihre Eltern pflegen (Grundpflege). Sondern es sind auch die Eltern, die ihre Kinder pflegen (Behandlungspflege) – und das nicht nur 10 Jahre (durchschnittliche Pflege der Eltern durch ihre Kinder) sondern sehr viel länger. Für uns als Eltern gilt kein Arbeitszeitgesetz (sie müssen dann 24 Stunden-Dienste und länger machen), es gibt keinen Urlaub, kein Kranksein etc. Das gilt natürlich auch für Eltern von gesunden (eher noch kleineren) Kindern. Aber bei einem intensivpflichtigen Kind muss man 24 Stunden bei voller Aufmerksamkeit sein! Und ein intensivpflichtiges Undine-Kind wird nicht erwachsen und selbstständig und kann dann seine Beatmung selber regeln. Es wird immer auf Hilfe angewiesen sein. 

Einen anderen Punkt in Bezug auf den Fachkräftemangel durften wir letztes Jahr schon erleben: unser Kinderkrankenpflegedienst konnte die Versorgung nicht mehr in vollem Umfang gewährleisten. 14 Pflegedienste haben wir angerufen und keiner hatte freie Kapazitäten. Wenn wir mit Eintritt der Volljährigkeit einen Erwachsenenpflegedienst benötigen, sieht es ganz schlecht aus. Wir haben da wenig Hoffnung, einen Pflegedienst für uns zu finden. Zumal wir schon Absagen bekommen haben, weil viele Erwachsenenintensivpflegedienste in 12 Stunden-Schichten arbeiten und unsere Versorgung halt nicht lukrativ ist mit einer 9 Stunden Nachtschicht – Paradoxes System! Wir haben keine Vorstellung, wie das Leben dann überhaupt weitergehen kann. Eine Einrichtung/WG kommt erst einmal nicht in Frage – gibt es bei uns auch nicht. Zumal auch dort Personal fehlt. Selbst Kinderhospize können nicht mehr die vollen Bettenanzahl belegen, weil das Personal fehlt. 

In solchen Situationen wird uns dann auch von der Seite der Krankenkasse empfohlen, das Persönliche Budget zu machen. Das mag vielerorts funktionieren, aber wo soll denn das Fachpersonal für die Intensivpflege auf dem Land herkommen? Mit dem IPREG ist ja noch nicht einmal sicher, ob man z.B. mit Medizinstudenten oder Rettungsassistenten arbeiten könnte. Das Persönliche Budget ist quasi ein Vollzeitjob: Werbung schalten, Personal suchen, Personal auswählen, Personal einarbeiten, Verhandlungen mit der Krankenkasse, Dokumentationspflicht, Dienstplanungen, Einarbeitung in diverse für Arbeitgeber wichtige Gesetze wie Arbeitszeitgesetz, Bundesurlaubsgesetz, Gesetze zum Mutterschutz etc. Dabei ist das intensivpflichtige Kind schon ein Vollzeitjob. Und dann wird man quasi schon zum Budget gezwungen; und die komplette Arbeit, die man alleine dafür leistet (wie vorher beschrieben: Personalsuche etc.) bekommt man als Eltern auch nicht vergütet. Wenn man die vollen Arbeiten abgeben würde an z.B. ein Steuerbüro würde die Krankenkasse dagegen aber eine Vergütung an das Steuerbüro bezahlen.

Also stellen wir hiermit in Frage, warum die Dienste, die Eltern für den Pflegedienst übernehmen müssen, unvergütet bleiben sollen? Selbst ehrenamtlich Beschäftigte bekommen eine Aufwandsentschädigung.

Warum bekommt der Pflegedienst seinen Verwaltungsaufwand vergütet (wird in der Kalkulation mit einberechnet) und die Eltern, die einen ähnlichen Aufwand im persönlichen Budget haben, nicht?

Meike und Stefan

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