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Erfahrungsberichte

Altersarmut wird mich als alleinerziehende, pflegende Mutter treffen


28. März 2022

Tina Müller pflegt ihre 5-jährige Tochter, die mit einem seltenen genetischen Defekt geboren wurde, der mit moderater geistiger Behinderung und körperlichen Fehlbildungen einhergeht. Die Diagnose erhielten die Familie erst ein paar Tage vor ihrem ersten Geburtstag. Jetzt ist Frau Müller nicht nur Mutter, sondern arbeitet unbezahlt als Therapeutin, Organisatorin, Fahrdienst, Bürokauffrau, Anwältin und lebt von HartzIV, damit sie die Pflege und Betreuung ihrer Tochter gewährleisten kann.

Wie sieht Ihre Familiensituation aus?

Vom Vater meiner Kinder lebe ich getrennt. Wir haben noch ein zweijähriges, gesundes Kind. Da er sechs Tage die Woche im Schichtdienst tätig ist, kann er mich nicht verlässlich unterstützen. Ich hatte vor der Geburt meiner behinderten Tochter einen guten und auch gut bezahlten Job, der mir viel Freude bereitet hat. Als alleinerziehende Mutter zweier Kinder, von denen eines den Pflegegrad 4 besitzt, lässt sich die Pflege mit einem Beruf aktuell nicht vereinbaren.

Was sind Ihre größten Herausforderungen im Alltag?

Müdigkeit! Ich bin jetzt schon erschöpft von all dem Bürokratieirrsinn, mit dem ich mich als pflegende Angehörige auseinandersetzen muss. Hinzu kommen die vielen organisatorischen Aufgaben, wie die Suche nach Hilfen und deren Beantragung, die Koordination von Terminen und Therapien, die vielen regulären Arztbesuche, die ständige Besorgung von Rezepten. Alles unter einen Hut zu bekommen, ohne mich selbst zu verlieren, ist unheimlich anstrengend! Denn die Pflege meines Kindes hört niemals auf. Es gibt für mich keinen Feierabend!

Welche konkrete Gesetzesänderung würde die Situation spürbar erleichtern? Manchmal bewirken kleine Veränderungen schon Großes. Was wäre für Sie wirklich wirksam?

Wenn ich hier nur einen konreten Wunsch äußern könnte, müssten wir Wohl kaum diese Kampagne starten. Deshalbe zähle ich einfach mal auf:

1. Ich habe Angst vor der Zukunft. Mit einem gesunden Kind, kann man irgendwann wieder voll arbeiten gehen. Mit einem Schwerstpflegefall allerdings nicht! Wie soll man sich dann für die Rente absichern? Altersarmut wird mich als alleinerziehende, pflegende Mutter treffen!

2. Wir benötigen mehr Dauerrezepte, die vor allem digital in die Apotheken übertragen werden. Alle 10 Wochen benötigt mein Kind neue Verordnungen für Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie, die ich beim Kinderarzt bestellen, abholen und zur Apotheke bringen muss. Bedingt durch den herrschenden Kinderarztmangel, habe ich einen Fahrtweg von jedesmal 25 Kilometer zu fahren. Und da nicht alle Verordnungen zur gleichen Zeit enden, fahre ich diesen Weg sehr oft wegen einer
einzigen Verordnung. Und ich habe hier noch keine Medikamente- oder Hilfsmittelverordnungen aufgezählt.

3. Was bringt mir ein Entlastungsbeitrag in Höhe von 125 Euro im Monat, wenn die Pflegedienste in unserem Umkreis keinerlei Kapazitäten frei haben, weil sie schon mit der Pflege unserer alten Mitmenschen überfordert sind? Meine private Haushaltshilfe darf ich über den Entlastungsbeitrag aber nicht abrechnen. Geld, welches sich die Krankenkasse spart - Geld, welches ich aus eigener Tasche zahle!

4. Wir benötigen ein neues System, indem Inklusion in Bildung, dem öffentlichem Leben sowie in der Wirtschaft so selbstverständlich wird, dass wir gar nicht mehr darüber reden müssen.

Gibt es etwas, dass Sie der Politik und interessierten Öffentlichkeit schon immer mal mitteilen wollten?

Wie kann es sein, dass ein I-Platz im Regelkindergarten mit 3118,76 Euro im Monat vergütet wird (Stand 2021, dieses Jahr erhöht sich die Summe!), ich aber, als vollzeitpflegende Fachkraft meines Kindes mit 728 Euro im Monat abgespeist werde? Zudem hat sich das Pflegegeld noch nie erhöht! Wer vollzeit pflegt, muss vernünftig vergütet werden, wenn er zwischenzeitlich nicht die Möglichkeit hat, arbeiten zu können. Von dem Pflegegeld meines Kindes kaufe ich Arbeitsmaterial. In der Kita wurde seit zwei Jahren nichteinmal in ein Set Gebärdenkarten investiert! Bei Beschwerde an unsere Kommune, wird alles auf die Kita-Einrichtung abgewälzt. Dabei fängt der Fisch oft vom Kopf an zu stinken! Allgemein wird unterstützende Kommunikation erst jetzt, nach meiner Beschwerde, halbernst genommen. Bei Nachfrage im Hessischen Ministerium für Bildung und Soziales wurde mir gesagt, dass die Kommunen die Verantwortung tragen, dass der hessische Erziehungs- und Bildungsplan umgesetzt wird. Warum gibt es keine ausgebildeten Fachpersonen des Ministeriums, die die Kommunen kontrollieren? Schließlich wird mein Gehalt auch ständig durch Überprüfung des Pflegegrades meines Kindes angepasst. Ein Gehalt von 3118,76 Euro im Monat, das ich versteuern kann und das in meine Rente einfließt, würde mir einige Sorgen ersparen.

Beschreiben Sie die Situation für "gesunde" Geschwisterkinder:

Aktuell sehr schwierig. Da keine Therapien meines behinderten Kindes in der Kita erfolgen können, fahren wir vier mal die Woche nach der Kita zu den Therapeuten. Da bleibt keine Zeit für Hobbys oder Interessen jedes Einzelnen. Aus diesem Grund habe ich mich auch für eine Förderschule entschieden, damit die Therapien meiner Tochter in der Schule erledigt werden und die Mittage für Interessen und Hobbys genutzt werden können. Es ist bedauerlich, dass man sich gegen Inklusion entscheiden muss, um nicht an einem Bournout zu erkranken.

Was sind schöne Momente, die Ihnen Kraft und Hoffnung geben?

Es steht außer Frage, dass ich viele schöne Momente mit meinen Kindern, trotz der intensiven Pflegetätigkeit meiner Tochter erlebe. Doch um wieder Kraft für mich tanken zu können, freue ich mich schon, wenn meine behinderte Tochter, bedingt durch ihre Infektanfälligkeit, mal eine komplette Woche ihre Kindergartengruppe besuchen konnte. Ich eine Woche lang einen Hauch von einem normalen Tagesablauf verspüren konnte, mal in Ruhe den Haushalt erledige, mich mal auf einen Kaffee mit einer Freundin treffe - einfach mal entschleunigen zu können, ist für mich extrem wichtig!

Was sind Gemeinsamkeiten, die Sie mit anderen Familien teilen?

Familien, die erst ab Geburt mit einer Behinderung oder Krankheit des Kindes konfrontiert werden, fallen in ein Loch. Sie hatten nicht die Zeit sich während der Schwangerschaft mit dem Thema auseinanderzusetzen. Deshalb benötigen wir in Deutschland eine lückenlose Hilfestellung direkt nach der Diagnose. Welche Hilfen stehen Familien mit einem pflegebdürftigen Kind zu? Wann und wo können die Hilfen beantragt werden? Ich musste mir damals alles mühsam zusammensuchen.

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