Erfahrungsberichte

Wie wir lernten loszulassen (oder auch nicht)


23. März 2022

Wie sieht das Leben mit einem autistischem Kind aus? Auf dem Blog Waschmaschinenland schreibt Anne über ihren Familienalltag. Den untenstehende Erfahrungsbericht durften wir im Rahmen der Kampagne auf unserer Webseite veröffentlichen.

Wie wir lernten loszulassen (oder auch nicht)

Die Bilanz der Sommerferien ist ernüchternd. Kaputte Brille, kaputtes Handy, abgerissene Tapete und unzählige zerrissene T‑Shirts. Ganz zu schweigen von den zahlreichen blauen Flecken, die meine Arme und Schienbeine schmücken. Inzwischen ist auch die zweite Leuchte unserer Wohnzimmerlampe auf dem Boden zerschellt. Wehmütig erinnern wir uns daran, wie lange wir nach einer passenden Deckenleuchte zu unserer inzwischen ebenfalls zerbrochenen Stehlampe gesucht hatten. Drei der ursprünglich fünf kugelrunden gläsernen Lampenschirme sind noch übrig. Wir entscheiden uns etwas Stabileres, ohne Glas zu kaufen bevor der nächste Lampenschirm auf irgendeinem Kopf landet. 

"Manchmal ist man sich über sein eigenes Problem noch nicht einmal im Klaren, wenn Karl schon genau weiß welche Knöpfe er drücken muss um einen auf die Palme zu bringen"

Ein Betreuer von Karl hatte mal gesagt, dass er wie ein immenser Verstärker auf die Gefühlslage seines Gegenüber reagiert. Und im Prinzip hat er recht. Wenn man Karl locker, entspannt und in sich ruhend gegenüber tritt, ist er ebenfalls entspannt und sehr aufgeschlossen. Auf der anderen Seite hat Karl ein Talent dafür zu spüren, wenn man in irgendeiner Weise Stress hat. Sei es durch Übermüdung oder irgendwelche belastende Gedanken, die einen umtreiben. Manchmal ist man sich über sein eigenes Problem vielleicht noch nicht mal im Klaren, wenn Karl schon genau weiß welche Knöpfe er drücken muss um einen auf die Palme zu bringen. Und auch wenn ich ihm nicht unterstellen möchte, dass er es gut oder in irgendeiner Weise angenehm findet, eine negative Reaktion hervorzurufen, ist es doch irgendwie genau das, was ihn verstärkt. Sobald man sich dazu hinreißen lässt, besonders emotional auf eine seiner Provokationen zu reagieren, hat man verloren. 

"Doch so leicht lassen sich die eigenen Gefühle leider nicht immer steuern"

So gewöhnt man sich im Laufe der Zeit loszulassen. Mit einem Schulterzucken registriert man das zerpflückte Memoryspiel, dass man zu seinem letzten Geburtstag mühsam selbst zusammengestellt hat oder die mit einem Zahnstocher perforierte Mehlpackung inklusive des damit einhergehenden Putzaufwands. Vermeiden lassen sich solche Vorfälle in der Regel nicht. Aber wenn man entspannt genug ist, lässt sich die Frequenz ihres Auftretens deutlich reduzieren. Vor ein paar Monaten noch haben wir uns selbst für unsere inzwischen erworbene Resilienz auf die Schultern geklopft. Doch so leicht lassen sich die eigenen Gefühle leider nicht immer steuern. Besonders in den Ferien, wenn wichtige Teile der Alltagsstruktur fehlen, liegen die Nerven doch schnell mal blank. Dann hat man irgendwie doch an der Wohnzimmerlampe gehangen. Und wie soll ich ohne Brille verdammt nochmal Auto fahren? Und während ich noch immer versuche dieses blöde Mehl aus den letzten Ecken der Schublade herauszureiben, sitzt Karl schon auf meinem Bett und arbeitet die Tomatensauce an seinen Mundwinkeln in meinen frischgewaschenen Kopfkissenbezug ein. Mir platzt der Kragen. Ich schimpfe. Karl haut. Schon wieder ein blauer Fleck. 

"Im Grunde wollten wir einfach nur, dass Karl genauso lange in die Schule gehen darf, wie seine Klassenkameraden und nicht zu Hause bleiben muss, wenn seine Schulbegleitung krank wird"

Ferien mit Karl sind nie einfach, doch dieses Jahr ist es anders.  Karl ist ein Kind, dass irgendwie in kein Raster zu passen scheint und sich den vorgesehenen Kategorien der Jugend- oder Eingliederungshilfe entzieht. Das führt vor allem dazu, dass sich erstmal niemand zuständig fühlt. Die letzten zwei Jahre waren ein einziger Kampf. Im Grunde wollten wir einfach nur, dass Karl genauso lange in die Schule gehen darf, wie seine Klassenkameraden und nicht zu Hause bleiben muss, wenn seine Schulbegleitung krank wird. Abgesehen davon, dass solche Wünsche bei einem Kind, das 1:1 beaufsichtigt werden muss, natürlich teuer sind, schien ein Fall, wie der von Karl in den unzähligen Prozessen und Vorschriften der Verwaltung nicht vorgesehen zu sein. Das Ergebnis war ein gewaltiges Orga-Chaos aus zahlreichen Flickenteppich-Lösungen. Zwischenzeitlich hatten wir den Überblick verloren, an welchem Tag Karl wie lange in der Schule bleibt und Karls Schulbegleitung war regelmäßig damit beschäftigt, ihren genauen Arbeitsumfang herauszufinden.  Der Wunsch nach stabilen Alltagsstrukturen, die Karl und eigentlich wir alle so dringend gebraucht hätten, erweist sich als schwer umsetzbar. 

"Es ist, als würden wir uns in Zeitlupe beim eigenen Scheitern zusehen"

Nach zwei Jahren ist der Frust groß und die verbleibenden Kräfte klein.  Karl spürt das und zieht alle Register. Die Eskalation nimmt ihren Lauf. Karls “Aktionen” nehmen zu, unsere Geduld nimmt ab. Das wiederum verstärkt Karls Verhalten, was wiederum unsere Überlastung verstärkt. Da geht sie dahin, die Resilienz. Die Ferien bringen das Fass zum überlaufen. Das Schulterzucken ist verlernt. Mit jedem Mal Schimpfen legen wir den Grundstein für das nächste Malheur. Es ist, als würden wir uns in Zeitlupe beim eigenen Scheitern zusehen.  Am Ende ist jeder Tag ein Ausnahmezustand. Wir sind alle unglücklich. Karl ist vor allem wütend. Fast täglich geht irgendetwas zu Bruch. Selbst die elektrische Miele-Spielzeugwaschmaschine, die mit dem orangenen Knopf (ganz wichtig), die Karl sich so lange gewünscht hatte, ist einem Wutanfall zum Opfer gefallen.  Er ist inzwischen so groß, dass wir ihm nicht mehr viel entgegensetzen können. 

"Wir werden noch einmal Loslassen müssen"

Uns wird (schon wieder) nahegelegt Karl in einem Heim unterzubringen.  Ich bin auch wütend. Auf Karl, auf mich selbst und darauf, dass es so viel einfacher ist eine Heimunterbringung finanziert zu bekommen, als eine ausreichende Beschulung und Betreuung zu Hause. Nach unserer Erfahrung mit dem letzten Klinikaufenthalt, der mehr Schaden angerichtet hat, als dass er genutzt hätte, habe ich große Zweifel, dass ein Heim der richtige Platz für Karl ist. Der Gedanke, ihn abzugeben und was dabei alles schiefgehen könnte, ist kaum auszuhalten. Doch gleichzeitig müssen wir uns schmerzhaft eingestehen, dass wir mittlerweile selbst in einem Zustand sind, in dem wir weder uns, noch Karl in irgendeiner Weise guttun.

Wir werden noch einmal Loslassen müssen. 

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