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Erfahrungsberichte

Unser Leben ist ein Kampf, der enorm viel Kraft erfordert


25. März 2022

Lena D. pflegt seit Anfang 2018 ihren Sohn, der durch einen sehr seltenen Gendefekt vielfältig beeinträchtigt ist. Er ist jetzt mit 4 Jahren immer noch auf dem Entwicklungsstand eines Säuglings, kann nicht sitzen, sich nicht selbständig beschäftigen, nicht gezielt greifen und ist nachts häufig wach. Hier berichtet sie über ihren Alltag als pflegende Mutter.

" Zu den üblichen Pflegeaufgaben eines Säuglings wie wickeln, waschen, an- und umziehen, kommen bei ihm weitere Aufgaben hinzu, die zum Teil sehr zeitaufwändig sind. Er trägt Brille, Sonnenbrille und Hörgeräte und wird inzwischen vollständig über seine PEG Magensonde ernährt. Neben der täglichen Medikamentengabe muss ich seine Brillen und Hörgeräte reinigen, die Fläschchen für seine Nahrungspumpe vorbereiten und reinigen, jeden Abend klebe ich seine Augen ab, da er sie nicht vollständig schließen kann und morgens muss ich die Pflaster erst ca. 30 Minuten aufweichen, bevor ich sie abnehmen kann. Hinzu kommen neben akuten Infekten, die vielen regelmäßigen Arzttermine wie SPZ (alle 3 Monate), Pädaudiologie, Augenklinik, Orthopädie, Zahnarzt (jeweils alle 6 Monate), Gastroenterologie (wiederkehrend nach Bedarf) und damit zusammenhängende Termine wie Sanitätshaus, Optiker, Akustiker und Therapien. Bis zu seinem dritten Lebensjahr waren wir bei der Logopädie, der Hör- und Sehfrühförderung und hatten regelmäßige Termine bei Osteopathie, inzwischen ist er in einem sonderpädagogischen Kindergarten angemeldet und wir gehen nur noch einmal die Woche zusätzlich zur Physiotherapie.

Da sein Vater uns verlassen hat und wir inzwischen keinen Kontakt mehr zu ihm haben, stehe ich mit diesen Aufgaben größtenteils allein da. Meine Mutter, die allerdings 600 km entfernt wohnt, und meine Freundinnen versuchen mich so gut es geht zu unterstützen, jedoch habe ich dabei häufig ein schlechtes Gewissen um Hilfe zu bitten, da sie selbst berufstätig sind und teils auch Kinder haben und ihre Freizeit eigentlich zur Erholung brauchen. 

"Meine eigenen Bedürfnisse bleiben oft auf der Strecke"

Die größte Herausforderung in unserem Alltag ist wohl das Zeitmanagement: ich stehe ständig vor der Aufgabe den Tag so zu planen, dass ich die Pflege von meinem Sohn, alle Termine von ihm, die ganzen organisatorischen Aufgaben, meine eigenen Bedürfnisse und meine Arbeit unter einen Hut bekomme, ohne etwas davon zu vernachlässigen. Jedoch schaffe ich das häufig nicht und so bleiben meine eigenen Bedürfnisse - wie mich ausreichend und gesund zu ernähren, etwas Bewegung zu bekommen oder mich ab und an mal allein mit Freunden zu treffen - oft auf der Strecke. Inzwischen gibt es ja zum Glück neben den ganzen Online-Shops für Klamotten und Alltagsgegenstände auch Lieferservices die Lebensmittel aus dem Supermarkt besorgen und einem nach Hause bringen. Als am Anfang der Pandemie plötzlich die Kindergruppe, in die ich meinen Sohn damals zwei bis drei Stunden täglich gebracht habe, geschlossen wurde, gab es das noch nicht in unserer Stadt und da ich ihn nicht in den Supermarkt mitnehmen wollte, war ich darauf angewiesen, dass Freunde oder Nachbarn für mich Einkäufe erledigen. Das war mir sehr unangenehm und es hat sich für mich wie ein Freizeit-Event angefühlt, als seine Babysitterin wieder regelmäßig zu uns nach Hause kam, damit ich in der Zeit selbst in den Supermarkt gehen konnte. 

"Überall fehlt es schlicht an Personal"

Mein Sohn hat Pflegegrad 5 und so habe ich eigentlich Anspruch auf viele Leistungen wie häusliche Krankenpflege (Pflegesachleistungen), Tage- und Nachtpflege und Kurzzeitpflege, die ich de facto aber nicht in Anspruch nehmen kann, da es schlicht kein Angebot gibt. Das Budget des Entlastungsbetrags und der Verhinderungspflege habe ich in den letzten Jahren für die Bezahlung stundenweise Betreuung von meinem Sohn vollständig ausgeschöpft. Diese wird durch ehrenamtliche Mitarbeiterinnen der Lebenshilfe und des familienunterstützenden Dienstes übernommen. Dabei gab es aber immer wieder große Schwierigkeiten, weil die Mitarbeiterinnen oftmals nicht entsprechend geschult sind, keine Medikamente verabreichen dürfen und beispielsweise bei uns das erste Mal mit der Bedienung einer Nahrungspumpe in Berührung kamen. Zudem machen viele diesen Job nur sehr kurz und die Bezahlung ist sehr schlecht. Wir haben tatsächlich nur eine einzige ehrenamtliche Mitarbeiterin der Lebenshilfe, die uns jetzt seit mehreren Jahren unterstützt; alle anderen waren nur wenige Wochen oder Monate da. Das ist zum einen wiederum ein großer Zeitaufwand und zum anderen fällt es mir sehr schwer meinem Sohn diesen ständigen Wechsel der Betreuungsperson zuzumuten. Ich habe bereits mit allen Pflegediensten vor Ort telefoniert, aber überall fehlt es schlicht an Personal und das wenige Personal, das verfügbar ist, wird für schwerere Fälle, wie beispielsweise beatmete Kinder benötigt, so dass wir bisher keine häusliche Krankenpflege in Anspruch nehmen konnten. 

Nebenher arbeite ich als wissenschaftliche Hilfskraft und wenn ich tagsüber keine Betreuung für meinen Sohn habe, bedeutet das für mich, dass ich mich abends, nachdem ich ihn ins Bett gebracht habe, an den Schreibtisch setze und arbeite bis mir die Augen zufallen. Ich könnte natürlich aufhören zu arbeiten und Arbeitslosengeld 2 beantragen, aber das möchte ich aktuell nicht. Die Lebenszeit von meinem Sohn wird sehr begrenzt sein und ich habe Angst, dass ich, wenn ich bis zu seinem Tod mehrere Jahre Arbeitslosengeld bezogen habe, große Schwierigkeiten bekomme eine Arbeitsstelle zu finden, die meiner Ausbildung und meinen Kompetenzen gerecht wird. 

"Das System mit den verschiedenen Leistungen und Kombinationsmöglichkeiten ist sehr kompliziert"

Unsere finanzielle Situation könnte schlechter sein, da ich dadurch, dass ich arbeite Anspruch auf Kindergeld, Unterhaltsvorschuss, Wohngeld und Kinderzuschlag habe. Auf der einen Seite bin ich sehr froh, dass ich in meiner Situation von staatlicher Seite so unterstützt werde, auf der anderen Seite empfinde ich es trotzdem als ungerecht, dass ich als Mutter, die Tätigkeit einer Pflegekraft für einen Bruchteil des Gehalts ausübe. Wenn ich meinen Sohn 24 Stunden am Tag in durchschnittlich 30,4 Tagen im Monat pflege, entspricht das einem Stundenlohn von 1,23 €. Das ist besser als nichts aber wirklich hilfreich wäre, wenn ich auf den Topf der Pflegesachleistungen zugreifen und privat eine Pflegekraft suchen und damit bezahlen könnte. Insgesamt ist das System mit den verschiedenen Leistungen und Kombinationsmöglichkeiten sehr kompliziert und es erfordert viel Zeit und Recherchearbeit, um überhaupt herauszufinden was einem zusteht und wie man entsprechende Leistungen abrechnen kann. Ich finde dieses System müsste dringend vereinfacht werden und den pflegenden Angehörigen ein größerer Spielraum gegeben werden auf die Leistungen zuzugreifen.

"Als pflegende Mutter ist man nicht nur im System der Krankenkassen und Behörden eher die Ausnahme"

Pflege an sich wird meist mit älteren Menschen in Verbindung gebracht und als pflegende Mutter ist man nicht nur im System der Krankenkassen und Behörden eher die Ausnahme. Auch in der Wahrnehmung eines großen Teils der Gesellschaft existiert die Gruppe pflegender Eltern quasi nicht. Häufig höre ich als pflegende Mutter, dass man das ja aus Liebe tut und es doch eigentlich eine schöne Aufgabe sei. Und ja, tatsächlich würde ich meinen Sohn nicht in ein Pflegeheim geben - auch dann nicht, wenn ich überhaupt kein Geld von der Pflegekasse oder Unterstützung von Staat bekäme. Aber ich habe den Eindruck, dass vielen überhaupt nicht bewusst ist wie herausfordernd mein Alltag als pflegende Mutter ist. Ich höre Vergleiche von Eltern gesunder Kinder, wie dass ihre Kinder ja auch viel Zeit und Aufmerksamkeit benötigen und es mit ihnen auch nicht leichter sei als mit meinem Sohn. Dass ihre Kinder aber alleine sitzen und laufen können, sich alleine Essen in den Mund stecken, irgendwann alleine die Toilette benutzen und sich alleine anziehen können, alleine spielen, ein Hörbuch hören oder Fernsehen schauen, dass sie mit ihren Kindern auf den Spielplatz gehen können und sich dort auf eine Bank setzen und ihren Kindern dabei zuschauen, wie sie herumrennen und schaukeln oder im Sand spielen, dass sie einfach in Urlaub fahren können ohne Angst haben zu müssen nicht genug Sondennahrung, Überleitgeräte, Spritzen, Augenpflaster etc. dabei zu haben, fällt ihnen gar nicht auf, da es nicht ihr Alltag ist und sie so wenig Einblick in meinen haben.

"Es fühlt sich oft so an als würde das, was ich leiste von vielen nicht als Leistung gesehen und anerkannt"

Ich muss meinen Sohn ständig beschäftigen und herum tragen oder schieben - wobei er lange weder den Kinderwagen, noch Therapiestuhl, noch Autositz toleriert hat und sobald er keinen Körperkontakt hatte, durchgehend brüllte und das auch heute noch gelegentlich tut -, mein Sohn muss ständig vor der Sonne geschützt werden, da seine Augen sofort schmerzen und seine Haut verbrennt, wenn er nur wenige Minuten am Stück direkter Sonnenstrahlung ausgesetzt ist, er muss vor zu viel Wärme geschützt werden, da er nicht schwitzen kann und sofort überhitzt, er muss vor der Kälte geschützt werden, da er nicht zittern kann und seine Körpertemperatur schnell abfällt und beides muss ich ständig im Blick haben, das er nicht sprechen kann. Daraus, dass andere die das nicht selbst jeden Tag erleben, nicht nachvollziehen können was das bedeutet, mache ich niemand einem Vorwurf, aber es fühlt sich oft so an als würde das was ich leiste von vielen nicht als Leistung gesehen und anerkannt werden. Wobei es mir dann am Ende doch fast lieber ist mir irgendwelche blöden Sachen anzuhören als keine, da viele sich im Angesicht der vielen Probleme, die mein Sohn hat, lieber gleich abwenden und nichts mit uns zu tun haben wollen. Und ja, wer hört schon gerne, dass jemand eben erst wieder im Krankenhaus war, da das Kind mal wieder Blut erbrochen hat?

"Es ist sehr hilfreich, sich austauschen zu können"

Inzwischen kenne ich aber auch einige andere Eltern mit Kindern mit verschiedensten Behinderungen und es ist sehr hilfreich sich austauschen zu können. Gerade am Anfang habe ich alle Tipps wie zum Beispiel, dass ich einen Pflegegrad, einen Behindertenausweis und einen blauen Parkausweis beantragen kann, von anderen Müttern im Wartezimmer beim Arzt oder der Physiotherapie erfahren. So war zum Beispiel eine Mutter, die selbst eine schwerbehinderte Tochter hat, bei einem Termin mit dem MdK dabei, bei dem es um die Höherstufung des Pflegegrads ging, obwohl ich sie zuvor erst zweimal getroffen hatte. Ohne ihre Hilfe hätte ich die Höherstufung zu dem Zeitpunkt wohl nicht erwirken können. Sie ist inzwischen zu einer guten Freundin geworden. Und ich habe auch von anderen Seiten sehr viel Hilfe und Unterstützung erfahren, mit der ich vorher niemals gerechnet hätte. Auch die Frau von der Lebenshilfe, die uns nun seit über zwei Jahren begleitet, ist inzwischen zu einer Freundin geworden und hat für so viele Belange immer sehr hilfreiche Tipps und kennt viele Stellen und Ansprechpartner, an die ich mich wenden kann, wenn ich mit etwas gerade selbst nicht weiterkomme. Inzwischen bin ich in zwei Facebook-Gruppen mit anderen Eltern mit Kindern mit dem gleichen Syndrom wie mein Sohn.

Dort ist es möglich Fragen zu stellen und sich auszutauschen, wobei der überwiegende Teil aus England und den USA kommt. Die Unterstützung ist jedoch enorm und ich bin immer wieder überwältigt davon, wie sehr sich viele dort engagieren. Als ich einmal eine Frage zur Ernährung gestellt habe, hat mich kurzerhand eine Mutter aus England angerufen und wir haben uns eine Stunde lang über Nahrungsmengen und Sondierungspläne ausgetauscht. Statistisch gesehen müsste es etwa 34 betroffene Kinder aus Deutschland geben, davon kenne ich jedoch nur drei andere Familien. Wir haben eine gemeinsame Gruppe gegründet, die inzwischen jedoch eher verwaist ist. Jedoch habe ich so eine andere Mutter aus Deutschland kennen gelernt mit der ich häufig Nachrichten austausche und regelmäßig telefoniere. Ich bin so froh, dass ich sie gefunden habe und wir uns gegenseitig im Kampf gegen diese schreckliche Erkrankung unserer Kinder unterstützen und Kraft geben können.

Und ja, unser Leben ist ein Kampf der enorm viel Kraft erfordert und an mir zehrt. Zu meinen größten Ängsten gehört was mit meinem Sohn passiert, sollte ich einmal nicht mehr können und aus gesundheitlichen Gründen seine Pflege abgeben müssen. Wer soll sie dann übernehmen?"

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